Nahtoderfahrung + Kinderwunsch

*Eine Reizwortgeschichte mit Begriffen von Isabel B. 

Das Kaufhausrestaurant war etwa halbvoll. Wie immer kurz nach der Mittagszeit waren die Fensterplätze fast ebenso komplett besetzt wie die in der Nähe des Toilettentraktes. Und wie immer waren es vor allem einzelne ältere Männer, die hier allein an einem Tisch saßen, ihr Weißbierglass oder einen Kaffeebecher befingerten und zwischendurch versuchten, mit den Theken- und Kassenkräftern zu schäkern.

In der Mitte des Raumes lärmte heute eine Gruppe chinesischer Touristen, am linken Rand zur Elektroabteilung hin saßen mit je zwei Tischen Abstand voneinander fünf Paare in praktischer, farbenfoher Freizeitkleidung; im Mutter-Kind-Bereich gleich vier der unvermeidlichen Dreigenerationen-Konstellationen (Oma, Tochter, kreischende Enkel), einige Tische weiter zwei missmutig drein blickende Mittvierzigerinnen in Business-Kostümen, denen ihr unerfüllter Kinderwunsch quasi auf die gebotoxte Stirn tätowiert war. Der eingedeckte Bereich rechts neben dem Eingang war erwartungsgemäß leer.  

Sablonski ging nach hinten und schaute die Liste der Nachmittagsangebote durch. Seine „Coffee & Cake“ Strategie schien auch in mittelgroßen Städten aufzugehen. Zweifünfzig für ein Stück Cremetorte oder Obstkuchen und einen Becher kaffeehaltiges Getränk (Klassisch, Latte M. und Cappucino) war ein sensationeller Preis, der sich schnell herum gesprochen hatte und den Cafe-Betreibern rund um den Rathausplatz zusehens Kopfschmerzen bereitete. Ihr Kaffeeklatsch-Klientel lief in Scharen zum Kaufhaus über und machte dort inzwischen auch reichlich Gebrauch vom „Snack & Softdrink“ Angebot für zweineunundneunzig, mit dem Sablonski eigentlich jüngere Zielgruppen hatte locken wollen. Bisher war der Ansturm der 14 bis 40 Jährigen jedoch ausgeblieben.

Aber das würde sich nach dem Umbau sicher ändern. Sablonski war zuversichtlich, schon aus Prinzip. Grundsätzlich liefen die Dinge gut für ihn und die Kaufhausgastronomie. An manchen Tagen machte ihm die graugesichtige Einsamkeit der Stammgäste zu schaffen; die wenig attraktive Optik des durchschnittlichen Laufpublikums machte ihm mittlerweile nur noch wenig aus. Dennoch sehnte er sich zuweilen in sein früheres Leben zurück, vor allem in die Zeit als F&B Manager bei der Meridien Gruppe und die kurze Phase erfolgreicher Selbstständigkeit als 'hospitality consultant' in der ehemaligen Sowjetunion. Aber spätestens nach der Nahtoderfahrung im Moskauer Baltschug Hotel war klar, daß er raus mußte aus dem Beherbungsgewerbe und möglichst weit fort von wohlhabenden Russen.

Sablonski fröstelte, dann rief er sich energisch zur Ordnung. In weniger als 30 Minuten würden die Kuchen-Kampfgeschwader antreten und der Raum in Grau, Beige- und Erdtönen und halblautem Gemurmel wogen, hie und da unterbrochen von Quietschen eines Rollators, aufgesetztem Gelächter und dem Klirren zu Boden fallender Gabeln...



* Reizwortgeschichten basieren auf zwei Wörtern, die formal und inhaltlich erst einmal keinen Zusammenhang haben, genauer gesagt auf zwei Begriffen, die mir Andreas Raum seit Anfang Dezember 2010 an fast jedem Abend per SMS zuschickt. Manchmal kommen die Begriffe auch von anderen Freunden. Meine Aufgabe besteht darin, mir noch am selben Abend eine kleine Geschichte oder Skizze auszudenken, in der die jeweiligen Begriffe vorkommen. Den so entstehenden aktuellen Kurztext schickt Herr Raum dann an einen Verteiler interessierter Leute. Je nachdem zu welchem Zeitpunkt seine "Abonnenten" in den Verteiler eingestiegen sind, kennen sie drei, zwölf oder alle der rund 70 bisher geschriebenen Reizwortgeschichten. Einige der Leser wünschen sich eine Art Archiv, und so sollen hier nach und nach alle bisherigen Texte aus der Reihe erscheinen. Die jeweils aktuellste Geschichte gibt es weiterhin per E-Mail. Bei Interesse genügt eine Nachricht an a.raum@gmx.net.

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