Tango mit Nike

Über Nacht hat man der dicksten Ureinwohner-Skulptur das Logo von "NIKE" vertikal in das linke Bein ihrer hölzernen, halblangen Hose geschnitzt. Ohne das Zetern des Tangolehrers wäre mir das wahrscheinlich nicht aufgefallen. Der nächtliche Schnitzer hat sich die Mühe gemacht, die Farbe anzugleichen.

Der kleine Platz im Da An-Park, der mit grob gehauenen, etwa 3 Meter hohen Holzbildnissen der 12 wichtigsten Ureinwohnerstämme gesäumt ist, liegt ein wenig abseits. Morgens wird er für Tanzunterricht benutzt, abends meist von einer kleinen Tai Ji Gruppe.

Morgens gegen 8 Uhr 40 regiert hier der Tango-Lehrer, ein frustriert, aber eindrucksvoll-aufrecht aussehender, hochgewachsener Mann um die 60; Eurasier, mit kinnlanger, graugesträhnter Künstlermähne. Vermutlich hat er schon mal bessere Zeiten gehabt. Jetzt jedenfalls unterrichtet er tanzfreudige Hausfrauen jenseits der 50 und einige Rentner.

Seine Schülerinnen sind beflissen, aber leider sehr verklemmt. Zwar können sie die Schritte aus dem FF,  halten aber ihren Unter- und Oberkörper eisern mindestens 20 Zentimeter vom Leib der Männer entfernt. Dafür haben die Männer die Schritte nicht so raus. Schön anzuschauen ist das steife Geschreite nicht.

Wenn ich hier auf dem Weg ins Büro vorbei komme, zetert der Tango-Lehrer meist, „LEIDENSCHAFT, Leute, mehr Leidenschaft!", spricht von großen, traurigen oder großen, gierigen Gefühlen und predigt das Sich-Einlassen auf den eigenen Körper und den des Partners….

Heute schimpft er über "Vandalen. Ignoranten. Dummes, markenhöriges Pack…!" Als sei es nicht genug, dass die Taipeher Sommeruniform aus bullerigen Shorts, übergroßen Polohemden und Sneakers bestünde. Was an dieser gleichmacherischen, geschmacklosen Ami-Ware denn wohl attraktiv sei. In Südamerika, in Spanien und in Italien – Ja, da hätten die Leute noch Geschmack, die Männer seien elegant, die Frauen erotisch gekleidet, in Taiwan hingegen…

Die Tango-Klasse schaut betreten an sich herunter. Alle tragen übergroße Polohemden und Sneakers, die Männer zu knielangen Shorts, die Frauen zu leichten, langen Trainingshosen. Und tatsächlich prangt auf fast allen Kleidungsstücken die geschwungene Nike-Linie.

Plötzlich kommt dem Tangolehrer ein Gedanke, und der gefällt ihm gut. Er strahlt über das ganze Gesicht und umarmt den verunzierten Riesenschenkel der Holzskulptur so liebevoll und herzlich, als wolle er ihn gleich abschlecken. "Das ist der Kommentar eines Künstlers, " schreit er, "Groß-art-tig! Versteht ihr, was der uns sagen will? Na? Na...?"

Die Gruppe schweigt und ich bin schon fast vorbei und in Gedanken bereits woanders, als eine Frau, die offenbar Addidas bevorzugt, schließlich mit leicht klugscheisserischem Ton schrillt: "Dass wir dabei sind, unsere kulturellen Wurzeln zu verlieren...?"

"Haya…?! Das ist doch wohl schon längst passiert, sonst wäret Ihr um diese Tageszeit nicht ausgerechnet zum Tangotanzen hier…. Aber ich sag Euch was, wer hier morgen in Sportzeug antritt, der fliegt raus. Wenn schon imitieren, dann richtig...!"

Im Weggehen fällt mir (wieder einmal) ein, dass perfekte Imitation bereits im alten alten China eine hochgeschätzte Fähigkeit war.

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