Reality Bytes


Die welkende Rothaarige, auf deren grünen T-Shirt „Fischmarkt“ steht, kommt zum achten Mal mit ihrer riesigen Mülltüte vorbei und lehnt sich weit über den Tisch. Vielleicht hat ja doch jemand in den letzten zwei Minuten seine Coladose leer getrunken. „Hey, muss doch alles schön sauber aussehen“, meint sie, als jemand am Tisch sagt, sie solle doch nicht so ungemütlich sein. „Wenn ich einen Job mache, dann richtig…“

Einer der Bürzel-gegelten Vertriebsmenschen am langen Tisch auf dem Freigelände dieser „Leitmesse für Online-Marketing“ wirft der Frau einen Blick zu, den sie wohl für arrogant oder mitleidig hält, jedenfalls mag sie ihn so nicht auf sich blicken lassen. Sie holt tief Luft und beginnt hektisch zu erzählen. Dass sie nicht immer in den untersten Chargen der Messegastronomie gearbeitet hätte und im Grunde mit an den Tisch hier gehöre. Früher hätte sie nämlich eigene MarCom-Firmen gehabt „…mehrere, hören Sie, mehrere...“. Vier bis fünf Fremdsprachen könne sie auch. Und das Geld, ja das hätte sie früher bündelweise ausgegeben. „Bün-del-weise, rechts und links,“ wiederholt sie und zieht imaginäre Scheine aus den Seitentaschen ihrer Billig-Jeans.


„Meine erste Firma hatte ich schon mit 20, die hab ich mit Profit verkauft, dann noch zwei. Ich hab das gaaanz große Rad gedreht“. Irgendwann aber sei sie von der Bank schlecht beraten worden und dann kam der Absturz. Ganz schnell. Keine weiteren Kredite, kein Mann, keine Familie, kaum Rücklagen. „Aber man muss ja flexibel sein. Ich arbeite alles, egal was kommt. Lieber Drecksjobs als Sozialamt.“ Also Mülleinsammeln auf Messen und Events, Busbetreuung von Wochenendtouristen auf Polenfahrt, Parkplätze bewachen, „Egal was kommt. Weil einen richtigen Job, den bekomme ich nicht mehr..."

Einer der Suchmaschinenoptimierer weiter unten am Tisch unterbricht ihren Redeschwall. Weißt die Frau in herrischem Ton darauf hin dass hier „gerade mehrere separate, aber allesamt wichtige Besprechungen stattfinden, und Du hast jetzt echt lange genug gestört, Alte."
"Ach DU, Du blas Du Dich mal nicht so auf,“ raunzt sie zurück und fährt sich dabei energisch durch die Haare, „Du bist vielleicht schneller pleite als Du glaubst. Und alt sowieso. Richtig frisch siehst Du ja jetzt schon nicht mehr aus.“

Dann macht sie eine ausholende, halbkreisförmige Bewegung mit den Armen, so als wolle sie uns wie schmutzige Servietten entsorgen. „Passt Ihr mal schön auf Euch, Ihr Internet-Glücksritter! Das mit dem arm und alt werden geht ganz schnell. Ruckzuck und Ihr seid wieder raus aus dem Spiel!“ Bevor jemand reagieren kann, säuselt sie „Ich bedanke mich. Und einen schönen Tag noch für Sie...“, dreht sich um und schlendert, die Mülltüte lässig schlenkernd, zum übernächsten Tisch.

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