Jenna

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Ende 30, Anfang 40 müsste Jenna jetzt wohl auch sein. Fragen nach ihrem genauen Geburtstag hat sie sich schon immer verbeten. Jedenfalls ist sie jetzt "…zu alt, um sich auf Handicaps rauszureden und Hemmungen weiter zu pflegen", sagt sie und kippt noch einen doppelten Glenlivet. "Ich geb jetzt schon seit ein paar Jahren Vollgas."

Welche Sorte Vollgas das ist, muss ich nicht groß fragen. Früher war Jenna zart, entrückt und unberührbar wie ein ätherisches Elfchen durch die Taipeier Kunstszene geschwebt. Feinsinnig, geschmackssicher, mit erstklassigen Manieren ausgestattet und streng monogam. Heute schimpft sie über "prätenziöse, schmierige Künstlerfressen", flucht auch sonst viel, schminkt sich dick und zieht in supernuttiger Aufmachung durch die billigeren Ausländerkneipen.

Dahin mag ich nicht, und so sind Jenna und ich in einer kleinen Kellerbar, die ein alter Bekannter namens Acai betreibt. Eigentlich macht Acai die Kneipe nur nebenbei, für seine Freunde. Personal gibt es dort keines. An volleren Abenden helfen die Stammgäste beim Thekendienst. Der Umgangston ist locker, man kennt sich seit Jahren und weiß entsprechend viel übereinander. Jenna geht nicht mehr oft zu Acai, sagt sie. Weshalb das so ist, sagt sie nicht.


Ursprünglich kommt Jenna aus Madison, Wisconsin. Eine echte Blondine, die selbst jetzt, trotz flittchenhafter Aufmachung und deutlicher Verhärmung, noch immer traumschön ist. In Taiwan lebt sie seit 15 Jahren, vielleicht sind es auch schon 20. Früher hat sie für große britische Auktionshäuser gearbeitet und Asiatika geschätzt. Ihr Chinesisch ist außergewöhnlich gut, genauso wie ihr Wissen über chinesisches Kunsthandwerk des 16. und 17. Jahrhunderts.

Seit einiger Zeit aber kommuniziert sie nur noch auf Englisch und findet Spaß daran, die dumme, kaukasische Schlampe zu spielen, "...für die sie uns Westlerinnen hier doch sowieso immer halten".

Vermutungsweise liegt der Grund für ihre Veränderung darin, dass (und wie) ihre Beziehung mit diesem Bildhauer zerbrochen ist. Den hatte sie so abgöttisch geliebt, dass sie ihm jede Demütigung durchgehen ließ und noch lieb lächelte dazu.
Jennas Obsession mit diesem komplett manischen Männchen habe ich nie begriffen.
Meister Wei, der bei uns nur 'Weirdo Wei" hieß, hatte Jenna wohl eines Tages völlig unerwartet aus dem Haus geworfen und das gemeinsame Leben für beendet erklärt. Und sie hatte ihm, wie immer, gehorcht und sich zügig scheiden lassen.

Der Grund war eine zarte Zwanzigjährige aus der volkschinesischen Provinz. Auf die war Weirdo Wei während einer dieser modernen buddhistischen Pilgerreisen getroffen, und "...plötzlich sollte ich Platz machen für Unschuld und Reinheit in seinem Leben. Plötzlich war ich das verdorbene Stück…", lacht Jenna bitter und schüttet den nächsten Whiskey in sich hinein.

"Nachdem er über 10 Jahre an mir herum experimentiert hatte, wollte er jetzt die perfekte, chinesische Projektionsfläche; perfektes, einheimisches Modelliermaterial. HAH! Da hat er sich bei dieser Xiuxiu aber schön geschnitten! Kaum hatte er sie aus der VR rausgeheiratet... Oh. Sorry, mein Magen..." Jenna rennt auf hohen Hacken in Richtung Toilette und schwankt ein bisschen dabei.

Acai winkt vom Tresen und hebt fragend die Augenbraue. Ich zucke die Schultern, er kommt herüber. "Whiskey, Wei, oder Beides?" fragt er lächelnd, klingt aber eher besorgt als belustigt. Und da klagt er auch schon stakkatomäßig los :"Herrje! Es ist so furchtbar, Jenna beim Abbauen zuzuschauen", schreit er fast. "Sie lässt überhaupt nicht mehr mit sich reden, und Hilfe will sie schon gar keine. Diese Sauferei immer…Das muss doch mal aufhören! Hast Du ihre Magenfalten gesehen? Ich will gar nicht wissen, wie oft sie am Tag kotzend über dem Klo hängt…. Und all diese jungen Ausländer, die sie da dauernd abschleppt, die tun ihr auch nicht gut. Was Gescheites gearbeitet hat sie auch bestimmt seit zwei Jahren nicht mehr..."

Seine rasende Rede stockt, denn gerade kommt Jenna zurück. "Ey, Acai, bring mir noch einen Whiskey und dann verpiss Dich. Ich kann Deine traurige Chinesenfresse heute einfach nicht ertragen", raunzt sie. Acai zuckt verletzt zusammen, aber nur für einen winzigen Moment. Dann setzt er ein cooles Grinsen auf und sagt "Weißt Du was, ich bring Dir einfach die ganze Flasche, Schätzchen. Bei dem Tempo schaffst du die heute locker, und den Magendurchbruch vielleicht auch."

"Ach leck mich doch", keift die ehemalige Elfe und stakst hektisch die Treppen zum Ausgang hoch. Acai will kein Geld von mir, ich soll mich lieber schnell um Jenna kümmern. Die steht oben auf der Strasse und weint. Nach Hause gebracht werden will sie aber nicht. Lieber noch ins Ninetynine. Als Fleischmarkt sei der Laden nach wie vor unschlagbar.
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